Das Antidiskriminierungs-Gesetz Title IX sollte Chancengleichheit im Sport gewährleisten und beschäftigt nun ganze Verwaltungen von amerikanischen Unis: Wie kam es dazu? Und wo liegt sein Nutzen? | NZZ (2024)

Jeder und jede hat dieselbe Chance verdient, wenn er oder sie denn etwas leisten will, unabhängig von Hautfarbe oder Geschlecht. Diese Überzeugung ist in den USA tief verwurzelt. Die Antidiskrimierungs-Politik an amerikanischen Elite-Unis hat deshalb durchaus ihren Sinn, auch wenn sie auf Europäer zuweilen hysterisch wirkt.

Das Antidiskriminierungs-Gesetz Title IX sollte Chancengleichheit im Sport gewährleisten und beschäftigt nun ganze Verwaltungen von amerikanischen Unis: Wie kam es dazu? Und wo liegt sein Nutzen? | NZZ (1)

Identitätspolitik ist an allem schuld, so viel steht in den USA schon einmal fest. An Trump sowieso, aber auch an der anämischen amerikanischen Linken, an der Politikverdrossenheit der Jungen und der zunehmenden Radikalität der Alten. Liberale Kritiker wie der Politikwissenschafter Mark Lilla sehen in der Identitätspolitik eine linksakademische Perversion liberaler Ideen. Sozialdemokraten aus der Gefolgschaft von Bernie Sanders erkennen darin einen Spaltpilz der neoliberalen Ideologie, die die Arbeiterklasse kleinhalten und bürgerliche Interessen unter dem Deckmäntelchen einer United-Colors-of-Benetton-Ästhetik durchboxen soll.

Das Gesetz Title IX, der wohl bekannteste Teil der Education Amendments von 1972, gehört zu den Zielen der Kritik. Title IX schreibt fest, dass «keine Person aufgrund ihres Geschlechts an der Beteiligung an einem Bildungsprogramm oder am Genuss der Früchte eines Bildungsprogramms gehindert werden darf oder innerhalb dieses Diskriminierung ausgesetzt sein darf, wenn dieses finanzielle Unterstützung vonseiten der Bundesregierung erhält». Unter diesem Paragrafen wurden in jüngster Zeit die vielbeachteten Fälle sexueller Belästigung an den Elite-Unis geahndet, aber auch Vergewaltigungsfälle und ganz normale Diskriminierungsvorwürfe fallen unter ihn.

Title IX macht seit 1972 eine kontinuierliche Expansion durch. Als der Autor dieser Zeilen Mitte der neunziger Jahre zum ersten Mal in die USA kam, war die einzige Title-IX-Beauftragte seines Campus neben der Lehre tätig, wie Frauenbeauftragte in Europa. Heute hat jede Universität eine ganze Abteilung, die sich hauptberuflich mit Title-IX-Untersuchungen beschäftigt – an der Stanford University sind es fünf Mitarbeiter. Diese Expansion hat viele Kritiker – Donald Trumps Bildungsministerin Betsy DeVos sagte mehrfach, dass das gescheiterte System die Universitäten dazu anhalte, zu weit zu gehen. Aber eben, wie weit ist zu weit?

Die Uni mischt mit

Um die Funktion dieser Gesetze zu verstehen, muss man die Lehren der Bürgerrechtsbewegung mitdenken, Jahrzehnte bevor Präsident Nixon Title IX unterzeichnete. Vor gut sechzig Jahren, am 5.September 1957, versuchte Minnijean Brown, damals fünfzehn, zum ersten Mal, auf der Central High School in Little Rock, Arkansas, zur Schule zu gehen. Weil sie schwarz war, wurde sie von vom Gouverneur des Staates angeforderten Nationalgardisten in voller Kampfmontur davon abgehalten, wie auch an den nächsten 18 Tagen. Erst als der republikanische Präsident Eisenhower die Arkansas National Guard unter seine Autorität stellte, konnten Brown und der Rest der als Little Rock Nine bekannten Schüler am 23.September überhaupt zur Schule gehen. Wer Zugang zu den Segnungen der Bildung hat, so vermittelte diese Episode, ist oberste Staatssache.

Die Fixierung auf Identitätskategorien, die Inbrunst, mit der sich US-amerikanische Unis nicht nur darum sorgen, ganz bestimmte Schüler in die Uni zu holen, sondern diese auch um jeden Preis dort zu halten, kann aus der europäischen Sicht leicht irritieren. Elternhaft mischt sich die Uni ein in die Belange der Studentenschaft, scheint die jungen Menschen a priori zu potenziellen Opfern abzustempeln. Aber wer verstehen will, wieso die amerikanische Bundesregierung seit Jahrzehnten den Zugang in den Vordergrund stellt, der kommt an der Szene in Little Rock und den Tausenden identischen Szenen jener Jahre nicht vorbei.

Denn die Hürden, die Minnijean Brown von der Central High School abhielten und die mit der präsidentiellen Intervention längst nicht aus der Welt waren, stellten eine komplizierte Mischung von Gesetz, kulturellen Codes und impliziter oder expliziter Gewalt dar. Die Gesetze, die man abschaffen konnte, die Rechte, die man festschreiben konnte, stellten lediglich die Spitze eines sehr viel grösseren Eisbergs dar.

Häufig war Unfreiheit weniger bedingt dadurch, wo man nicht hindurfte, als vielmehr dadurch, was geschehen konnte, wenn man dort hinging. Ab einem bestimmten Punkt hatte eine afroamerikanische Familie in Boston oder Chicago sehr wohl das Recht, ein Haus auf einem weissen Block zu kaufen. Aber Zugang hatte sie deshalb noch nicht. Das Recht blieb rein abstrakt, wenn sich kein Makler fand, der es ihr verkaufte, wenn sich keine Bank fand, die eine Hypothek ausstellte, wenn die Bundesregierung sich weigerte, das Haus oder die Hypothek zu versichern.

Liberal oder nicht?

Und was bringt ein Haus, das keiner versichert und dessen Wert aus unklaren Gründen abstürzt, sobald man einzieht? Das von den Nachbarn beschmiert wird und auf Schutz vonseiten der Polizei nicht zählen kann? Nein, Zugang konnte nur ein emphatisches Hiersein meinen, ein zutiefst bürgerliches: besitzen, frei nutzen und Geld daran verdienen. Der Staat musste dies aktiv garantieren und Verstösse ahnden.

So gerne die amerikanische Publizistik den Title IX der angeblich den Liberalismus unterwandernden Identitätspolitik in die Schuhe schiebt: Diese Gedanken sind liberales Urgestein, schon bei John Locke nachzulesen. Zugang ist ein Bürgerrecht im emphatischen Sinne: Wer Besitz nicht erwerben, halten oder vermehren kann, ist kein Bürger.

Title IX ist in diesem Kontext zu verstehen. Er versteht sexuelle Gewalt als analog zu rassistischer Gewalt: als systematischen Versuch, bestimmte Subjektgruppen von der Verwirklichung ihrer Rechte abzuhalten. Aus diesem Verständnis resultieren jene Aspekte der Gender-Politik an amerikanischen Unis, die für den europäischen Blick bizarr anmuten können: die Überempfindlichkeit, die leicht als Masslosigkeit empfunden wird; der Rigorismus, der hierzulande gerne mit Verweisen auf Puritaner und christliche Moral erklärt wird; und nicht zuletzt die ausladende Definition dessen, welche Aktivitäten und Foren noch zum Ökosystem Universität gehören.

Bissige Kritik

Auch in den USA haben diese Aspekte viele Kritiker. Die Filmwissenschafterin Laura Kipnis führt seit Jahren einen Kreuzzug gegen Title IX aus feministischer Perspektive. Das Gesetz ermuntere Studenten, sich als ewige Opfer zu sehen, die Gerechtigkeit einklagen müssen. Anstatt die Studentenschaft zu ermuntern, Machtstrukturen zu durchschauen und zu hinterfragen, gehe Title IX von Mythen und Phantasien über Macht aus. Der Prozess selber, so Kipnis in einem anderen Essay zu dem Thema, sei ein kafkaesker Albtraum aus «übertriebenen Vorwürfen, willkürlichen Urteilen und erschreckenden Bürokratieexzessen». Diese Vorwürfe sind nicht aus der Luft gegriffen. Und dennoch zielt Kipnis’ Kritik an Sinn und Ursprung des Gesetzes vorbei.

Denn von Anfang an interessierte sich Title IX nicht für übergriffige Schurken und unschuldige Opfer, sondern für Systeme, die Übergriffe ermöglichen und damit Ungleichheit immer wieder neu erzeugen. 1980 kam der Präzedenzfall Alexander v. Yale: Fünf ehemalige Studentinnen der Universität Yale verklagten diese, weil sie sie ungeschützt sexueller Belästigung ausgesetzt hatte. Das Gericht bestätigte, dass dieser fehlende Schutz die Studentinnen in der Tat benachteiligt habe und somit Title IX zuwiderlaufe. Die Studentinnen hatten Yale weder ein Verbrechen vorgeworfen noch auf Geld geklagt: Sie klagten ein Beschwerdeprozedere für sexuelle Belästigung ein, das Yale aufgrund der Klage auch einrichtete.

Alexander war in zweierlei Hinsicht prägend. Erstens zielte die Klage nicht auf einzelne Missetäter, sondern auf das System Universität ab. Zweitens fasste es sexuelle Gewalt und sexuelle Belästigung im Kontext von Title IX nicht als Verbrechen (obwohl sie natürlich juristisch auch das sein konnten), sondern als Versuche, «gleichen Zugang» zu Bildung zu torpedieren. Im Fall Meritor Savings Bank v. Vinson, der sich allerdings auf Title VII, nicht Title IX berief, dehnte der Supreme Court 1986 diese Logik auch auf die Privatwirtschaft aus. Meritor war ein Vergewaltigungsfall, aber der Angeklagte war nicht der Vergewaltiger, und der Vorwurf war nicht Vergewaltigung. Der Angeklagte war die Bank, die den Vergewaltiger hatte gewähren lassen.

Die künstlerische Aufarbeitung, die diese juristischen Entwicklungen begleitete, allen voran David Mamets Drama «Oleanna» von 1992, verband die Geschlechterthematik mit der Frage nach individueller Schuld, nach Wahrheit und Wahrnehmung. Hingegen ging es in der Jurisprudenz jener Jahre ums System. Einen eigentlichen Missetäter sucht das Gesetz gar nicht. Sexuelle Belästigung wird als Diskriminierung gefasst. Was Kipnis anprangert, sind samt und sonders Mechanismen, mit denen die Universität, um nicht verklagt zu werden, interne Befolgung («compliance») von Title IX gewährleisten will.

It’s the institution, stupid!

Diesen oder jenen Vorwurf vonseiten der Studentenschaft herauszupicken, der dann isoliert tatsächlich etwas Lächerliches haben kann, verfehlt den Kern der Sache. Denn es geht – oder ginge – nicht darum, den Einzelnen zu bestrafen – «den Missetäter zu verbrennen, die Heiligkeit der Gemeinde wiederherzustellen», wie Kipnis ätzt. Es geht gar nicht um die einzelne Handlung, sondern die institutionellen Strukturen, die diese einrahmen.

Title IX wurde anfänglich auf Sportligen angewandt und dehnte sich immer weiter aus. Gleichheit gehorcht immer dem Gesetz der grossen Zahl. Title IX nervt in seiner täglichen Anwendung, aber es dürfte gut sein, dass er nervt. Man kann dem Gesetz und seiner Umsetzung viel vorwerfen, dass es das Verständnis dafür schwächt, wie die Institution Uni funktioniert, aber wirklich nicht. Kipnis stellt Title IX als Reinigungsritual dar, als konservatives Prinzip. In Wirklichkeit aber ist er ein Instrument permanenter Selbstbefragung, ja Selbstverunsicherung. «Paranoia ist eine Formel für intellektuelle Starrheit», schreibt Kipnis. Paranoia ist aber auch eine Voraussetzung für tiefschürfende Kritik.

Adrian Daub ist Professor für Literaturwissenschaften an der Stanford University.

So glauben sie im Silicon Valley Technologie sei ein Religionsersatz, heisst es. Das mag durchaus stimmen, im metaphorischen Sinne. Doch wie steht es eigentlich um die echte religiöse Praxis der Techgiganten wie Facebook oder Google? Ein Besuch in den Zentralen vor Ort.

Adrian Daub

Die mächtigen Männer schlagen zurück Die Tech-Nerds zählen zur Elite. Da liegt es nahe, dass sie sich für besser halten als den Rest der Welt. Zugleich tun sie jedoch so, als würden sie es mit ihrer Überlegenheit nie ganz ernst meinen. Wie reaktionär ist das Silicon Valley wirklich?

Adrian Daub

Das Antidiskriminierungs-Gesetz Title IX sollte Chancengleichheit im Sport gewährleisten und beschäftigt nun ganze Verwaltungen von amerikanischen Unis: Wie kam es dazu? Und wo liegt sein Nutzen? | NZZ (2024)
Top Articles
Oversterfte over de grens
Is dit de verklaring van de oversterfte?
Walgreens Boots Alliance, Inc. (WBA) Stock Price, News, Quote & History - Yahoo Finance
Gomoviesmalayalam
J & D E-Gitarre 905 HSS Bat Mark Goth Black bei uns günstig einkaufen
Top Scorers Transfermarkt
Tj Nails Victoria Tx
Devotion Showtimes Near Mjr Universal Grand Cinema 16
Mohawkind Docagent
Wfin Local News
Smokeland West Warwick
Umn Biology
Sotyktu Pronounce
Robot or human?
2021 Lexus IS for sale - Richardson, TX - craigslist
Miami Valley Hospital Central Scheduling
How to find cash from balance sheet?
VMware’s Partner Connect Program: an evolution of opportunities
Viprow Golf
The Cure Average Setlist
Gdlauncher Downloading Game Files Loop
Grayling Purnell Net Worth
Craigslistjaxfl
Promiseb Discontinued
The Old Way Showtimes Near Regency Theatres Granada Hills
Kingdom Tattoo Ithaca Mi
Naya Padkar Gujarati News Paper
Gs Dental Associates
Tokyo Spa Memphis Reviews
Craigslist Rome Ny
Publix Near 12401 International Drive
Evil Dead Rise Ending Explained
Albertville Memorial Funeral Home Obituaries
How To Improve Your Pilates C-Curve
R/Mp5
ATM, 3813 N Woodlawn Blvd, Wichita, KS 67220, US - MapQuest
Ugly Daughter From Grown Ups
Earthy Fuel Crossword
Greater Orangeburg
Life Insurance Policies | New York Life
Joplin Pets Craigslist
آدرس جدید بند موویز
Natashas Bedroom - Slave Commands
Caderno 2 Aulas Medicina - Matemática
The best Verizon phones for 2024
Oxford Alabama Craigslist
Mars Petcare 2037 American Italian Way Columbia Sc
Yogu Cheshire
Mybiglots Net Associates
Sky Dental Cartersville
Gonzalo Lira Net Worth
French Linen krijtverf van Annie Sloan
Latest Posts
Article information

Author: Ms. Lucile Johns

Last Updated:

Views: 5652

Rating: 4 / 5 (61 voted)

Reviews: 92% of readers found this page helpful

Author information

Name: Ms. Lucile Johns

Birthday: 1999-11-16

Address: Suite 237 56046 Walsh Coves, West Enid, VT 46557

Phone: +59115435987187

Job: Education Supervisor

Hobby: Genealogy, Stone skipping, Skydiving, Nordic skating, Couponing, Coloring, Gardening

Introduction: My name is Ms. Lucile Johns, I am a successful, friendly, friendly, homely, adventurous, handsome, delightful person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.